Am 30. Oktober 2003 erfolgte der Kinostart des Films „Luther“. Viele Menschen lockte er in die Kinos. In der Tat ist „Luther“ ein sehenswerter Kinofilm über das Wirken des Reformators. Eine beeindruckende Szene des Films richtet die Aufmerksamkeit auf eine ärmliche Frau. Aus Scham versteckt sie ihre behinderte Tochter. Martin Luther missbilligt im Film das Verhalten der Frau und ermutigt
sie, ihre Tochter als Geschenk Gottes zu betrachten und mit ihr am Leben der Stadt Wittenberg teilzunehmen.
Diese Szene ist in der Tat berührend. Man kann sie als eine treffliche Veranschaulichung von Luthers Erkenntnis verstehen, dass wir unseren Rückhalt in Gottes Ja suchen sollen und nicht in der Anerkennung von Seiten unserer Mitmenschen. Jene Episode im Film hat allerdings einen Haken. Der reale Luther hat sich über Menschen mit Behinderung in einer anderen Weise geäußert. Über einen 12-jährigen Jungen mit schwerer Behinderung meinte er: Man solle das Kind erwürgen. Auf die Frage, warum, erklärte er: „Ich glaube schlicht, es sei ein Stück Fleisch ohne Seele“ (nach: Weimarer Ausgabe, D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, Band V, Nr. 5207). Hier sehen wir Luther als Kind seiner Zeit, beeinflusst vom mittelalterlichen Aberglauben, der Behinderungen mit Hilfe dämonischer Mächte zu erklären versuchte.
Ebenso unerträglich, aber bekannter sind seine feindseligen Aussagen über Juden: „Man solle ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecken“, um nur eine dieser Aussagen zu nennen, die zu zitieren Überwindung kostet. Hier hilft auch nicht der Hinweis, dass der junge Luther sich deutlich für die Duldung von Juden aussprach. Die Aussagen des späten Luther über Juden waren in ihrer Polemik so maßlos, dass selbst einige seiner Mitstreiter mit Befremden auf sie reagierten.
Nun begehen wir in diesem Jahr das 500. Reformationsjubiläum. Die Gefahr ist dabei groß, in erster Linie Luthers Verdienste in den Mittelpunkt zu stellen. Ohne Zweifel hat er Großes geleistet: Da ist beispielsweise sein mutiges Eintreten für die Erkenntnis, dass der Mensch von Gott aus Gnade angenommen wird und nicht durch eigene Werke. Da ist seine Bibelübersetzung, die eine bewundernswerte Leistung darstellt. Noch andere Beispiele ließen sich hier aufführen. Und doch meine ich: Es sollte für die evangelische Kirche ein Gebot der Der fremde Luther - eine schmerzliche
Herausforderung für das Reformationsjubiläum
Redlichkeit sein, auch die Seiten des Reformators zu thematisieren, an die zu erinnern für alle, die sich seinem Erbe verbunden wissen, schmerzlich ist.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich zu fragen, wie Martin Luther sich selber sah. Er sagte einmal: „Zum ersten bitt ich, man wollt meines Namen schweigen und sich nicht Lutherisch, sondern Christ heißen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein. So bin ich auch für niemand gekreuzigt. Der Heilige Paulus (1. Kor 3,4f.) wollt nicht leiden, dass die Christen sich sollten heißen Paulinisch oder Petrisch, sondern Christen. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollt mit meinem heillosen Namen nennen?“
Eine Kirche, die sich dem Erbe Luthers verpflichtet weiß, wird also nicht die Person des Reformators in den Mittelpunkt stellen wollen. Sie wird aber das in den Mittelpunkt stellen, was Luther bei seinem Bibelstudium wieder entdeckte: Dass Gott uns Menschen in Liebe bejaht, obwohl wir Sünder sind und bleiben. Eine Kirche, die sich in der Tradition Luthers sieht, wird also der Vergebungsbedürftigkeit ihres Reformators ebenso gewahr werden wie der eigenen. Selbstgerechtigkeit wird für sie ausgeschlossen sein. Sie wird in Anbetracht eigenen Versagens anderen Konfessionen und Religionen in Respekt und Offenheit begegnen.
Martin Luther hat einmal im Rückblick auf sein Wirken festgestellt: „Gottes Wort hat, wenn ich geschlafen hab, wenn ich wittenbergisch Bier mit meinen Freunden
Melanchthon und Amßdorff getrunken hab, alles getan. Ich hab nichts gemacht, ich hab das Wort lassen handeln.“ Eine Kirche, die bei Luther in die Schule gehen will, wird bei ihm also immer auch dieses eine lernen dürfen: Das, was Kirche zur Kirche macht, ist nicht abhängig von den Stärken oder Grenzen ihrer Menschen, sondern ist in Gott gegründet.
Christian Muschler, Pfarrer in Forchheim Christuskirche